Thomas Glavinic: Das größere Wunder

Wie wird man, wer man ist?

 

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von Paulchen

Auf dem Dach der Welt

Jonas, der Protagonist in Thomas Glavinics Roman Das größere Wunder, ist einer von hunderten Abenteurern, die sich jedes Frühjahr im Basislager am Fuß des Mount Everest zusammenfinden, um sich von erfahrenen Bergführern und einheimischen Sherpas auf den mit 8848 Metern höchsten Berg der Erde lotsen zu lassen. Dafür zahlen sie nicht nur viel Geld, sondern setzen sich auch tödlichen Gefahren aus, wie die an Jonas’ Zelt vorbeigetragene Leiche beweist. Es wird nicht die letzte sein, die er im Verlauf der Expedition zu Gesicht bekommt. Doch Jonas plagt weniger die Angst vor dem Tod oder die durch extreme Höhe und Kälte verursachten körperlichen Strapazen, sondern die erst kürzlich erfolgte Trennung von seiner großen Liebe Marie. Er grübelt über diese Trennung nach und lässt dabei seinen Lebensweg noch einmal Revue passieren, der ihn von einem kleinen Dorf in Österreich um den ganzen Erdball auf das Dach der Welt geführt hat. In abwechselnden Kapiteln schildert Glavinic Jonas’ Aufstieg zum Gipfel des Everest und die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, die er mit seinem Kumpel Walter unter der Obhut des undurchsichtigen Onkel Picco verbracht hat.

Werde, wer Du bist

Bereits als Junge hat Jonas das Ziel, der zu werden, der er ist, da dies seiner Meinung nach eine notwendige Bedingung der Möglichkeit eines glücklichen Lebens darstellt. Er ist zudem durchdrungen von dem Gefühl, dass hinter der Oberfläche der Ereignisse eine geheime Botschaft verborgen liegt, dass also in gewisser Weise die Welt selbst ihm etwas darüber mitteilen möchte, wer er wirklich ist bzw. werden muss. Jonas’ Handlungen können als Versuch betrachtet werden, diese Botschaft zu entschlüsseln. Dazu gehört die von seinem Kumpel Walter geteilte und dessen Onkel Picco geförderte Neigung, sich Gefahrensituationen auszusetzen und die eigene Angst zu besiegen, ebenso wie seine intensive Reisetätigkeit, die immer wieder von lang anhaltenden Phasen der Isolation unterbrochen wird, in denen er sich jahrelang in einem Zimmer in Rom einschließt. Darüber hinaus versucht er, Brücken zwischen seinem zeitlich früheren und späteren Ich zu schlagen, indem er sich Postkarten zuschickt und an sich selbst gerichtete Notizen in Hotelzimmern überall auf der Welt versteckt. Später lässt Jonas sogar einen Eisenbahnwaggon um die halbe Erde nach Österreich verschicken, um einen bereits gelebten Moment mit der Gegenwart zu verknüpfen. All dies stellt den Versuch dar, die einzelnen Augenblicke und Erlebnisse zu einem kohärenten Ganzen – einem Selbst – zu verbinden. Jonas wirkt dabei allerdings selten glücklich, sondern wie ein getriebener und grüblerischer Mensch, der generell ziemlich orientierungs- und planlos handelt und zunehmend vereinsamt. Erst durch seine Bekanntschaft zu Marie, die er als großes Wunder erlebt, kommt er schließlich etwas zur Ruhe.

Ein typischer Glavinic

Glavinic-Leser dürften sich bereits bei den Namen Jonas und Marie an früheren Romanen des Autors wie Die Arbeit der Nacht und Das Leben der Wünsche erinnert haben, und auch inhaltlich gibt es durchaus Parallelen zwischen den Werken. Bereits in Die Arbeit der Nacht spielt die Erforschung des eigenen Selbst und die Auseinandersetzung mit Ängsten und Einsamkeit eine zentrale Rolle. Außerdem ist die (romantische) Liebe ein wichtiges Thema aller drei Romane. Stilistisch reiht sich Das größere Wunder ebenfalls nahtlos in die Reihe der bisherigen Glavinic-Bücher ein. Neben der erfreulich unprätentiösen Sprache ist hier besonders auf den dezenten, aber wirkungsvollen Einsatz mystisch-rätselhafter Elemente hinzuweisen. Beispielsweise kann Jonas ohne große Mühe sämtliche Sprachen verstehen und scheint selbst schwere Unfälle ohne großen körperlichen Schaden zu überstehen. Auch gibt es eine Burg mit geheimnisvollen, verschlossenen Räumen und undurchsichtige Figuren wie Picco oder der später im Buch auftauchende Tanaka, die über große Macht und Einfluss zu verfügen scheinen, ohne dass man etwas näheres über ihre Hintergründe erfährt. Fazit: Wer Glavinics frühere Romane mochte, dem wird Das größere Wunder sowohl in inhaltlicher als auch in sprachlicher Hinsicht ebenfalls gefallen.

Thomas Glavinic: Das größere Wunder. Hanser Verlag 2013. 528 Seiten. 22,90 €.

Ein Kommentar zu “Thomas Glavinic: Das größere Wunder

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