Der mittlere Westen einmal anders
von Paulchen
Bis zum Ende der Welt
Die 14-jährige Jessy ist zusammen mit ihrer älteren Schwester Elise und ihren Eltern auf dem Weg von Alabama nach Kalifornien, um dort den vom selbsternannten religiösen Führer Marshall prophezeiten Weltuntergang zu erleben. Als gute evangelikale Christen haben sie sich für ihre Pilgerreise mit „König Jesus Kehrt Zurück!“ T-Shirts und Flyern ausgestattet, um möglichst viele ihrer verdammten und sündigen Mitmenschen vor der Hölle zu bewahren. Während Jessys gerade wieder einmal arbeitslos gewordener Vater zuversichtlich ist, dass seine Familie zu den Auserwählten gehört und bald von König Jesus höchstpersönlich ins Paradies entrückt werden wird, plagen Jessy ganz andere Gedanken. Kann ihre religionskritische, von Jungs regelmäßig als „Granate“ bezeichnete und heimlich schwangere Schwester, zu der sie mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung aufblickt, wirklich erlöst werden? Ist das Paradies überhaupt ein wünschenswerter Ort, wenn der Familienhund, den sie in Alabama zurücklassen musste, dort nicht willkommen ist? Und am wichtigsten von allem: wird sie vor ihrer „Entrückung“ noch einmal einen Jungen treffen, der sie wirklich liebt – und vielleicht sogar Sex haben? Auf ihrer Reise über die staubigen Straßen von Texas bis Nevada, die regelmäßig durch Zwischenstopps an Tankstellen, Motels und Schnellimbissen unterbrochen werden, begegnen Jessy und ihre Familie zahlreichen skurrilen Gestalten und erleben die letzten Tage der Welt als Familienausflug der etwas anderen Art.
Endzeitszenario
Süßer König Jesus ist der erste Roman der amerikanischen Schriftstellerin Mary Miller, und es ist ein guter Roman geworden. Dies liegt vor allem daran, dass Miller durch die Augen ihrer Protagonistin Jessy einen originellen Blick auf den mittleren Westen der USA wirft. Dieser ist dem europäischen Leser inzwischen aus zahlreichen Filmen und Büchern als karge Landschaft voller trostloser Kleinstädte präsent, in der ungebildete, rassistische oder fanatisch-religiöse Menschen ihr klägliches Dasein fristen, während Desperados und Massenmörder die Highways patrouillieren und wo jede Autopanne, jeder Tankstopp den (gewaltsamen) Tod bedeuten kann. Nein, hier will man nicht leben, und erst recht kann es hier kein Glück geben. In gewisser Weise bestätigt Miller dieses Bild durch ihre Schilderung der eintönigen Landstriche, in der sich die immer gleichen heruntergekommenen Ortschaften mit ihren immer gleichen Motels und Fastfood-Restaurants finden. Sie entwirft zudem Schauplätze und Szenen, die auch aus einem Roman von Cormac McCarthy stammen könnten. Wenn der Wagen der Familie aufgrund einer Reifenpanne auf offener Straße liegenbleibt und kurz darauf vier Männer vorbeikommen, von denen einer einen Schlangenschädel als Gürtelschnalle trägt, dann erwarten wir natürlich das Schlimmste. Kurz gesagt: Die Umwelt, die Miller schildert, hat zumindest in den Augen des europäischen Lesers einen der Rahmenhandlung der Geschichte durchaus angemessenen endzeitlichen Charakter.
Die andere Sicht
Jessy aber, aus deren Perspektive wir durch diese Landschaften und Szenen geführt werden, erlebt ihre Reise nicht als deprimierend-endzeitlich, sondern als spannenden und interessanten Familienausflug. Jeder Tag hält für sie neue Erlebnisse bereit, jeder Zwischenstopp birgt die Chance, neue Menschen kennenzulernen – vor allem natürlich Jungs, die potentielle Kandidaten für die ewige Liebe darstellen, sofern sie sich nicht wie üblich auf ihre Schwester fixieren. Jessys Blick fällt eben nicht in erster Linie auf die öden Kulissen, sondern auf die Menschen, die an keinem Ort gleich sind und ebenso ihre Geschichten, Träume, Talente und Laster haben wie überall auf der Welt. Dabei stellt sich letztlich heraus, dass es im mittleren Westen nicht mehr oder weniger Unglück, Eintönigkeit oder Massenmörder zu geben scheint als anderswo. Die vier Männer, die der Familie während ihrer Autopanne begegnen, wechseln wirklich einfach nur den Reifen, und der zwielichtige Typ aus der Bar, mit dem ihre Schwester mitfährt, entpuppt sich nicht als Vergewaltiger, sondern bringt sie unversehrt wieder zurück. Dennoch sind die Ereignisse für Jessy und ihre Familie natürlich spannend, aber eben auf eine konventionelle Weise. Für uns werden sie besonders spannend, weil Miller so gekonnt mit den Klischees spielt, die sich in unseren Köpfen festgesetzt haben. Dazu gehören natürlich auch die religiösen Eltern, besonders der vom drohenden Weltuntergang überzeugte Vater. Er entpuppt sich nicht als ungebildeter, religiöser Eiferer, der seine Familie terrorisiert und seine Mitmenschen verachtet, sondern als hilfsbereiter Mensch mit Collegeabschluss, der seinen Töchtern die Schönheit der USA zeigen und sich nach erlittener Arbeitslosigkeit zumindest kurzfristig einen Lebenssinn zurückerobern möchte. Viele der Probleme, Gespräche und Konflikte, zu denen es auf der Reise kommt, unterscheiden sich daher auch kaum von denen „gewöhnlicher“ Familien.
Aber wenn letztlich alles so normal ist, wieso sollte man diesen Roman dann überhaupt lesen? Weil er temporeich und kurzweilig ist, weil einem die skurrilen Figuren und Situationen in Erinnerung bleiben werden, und weil wir natürlich wissen wollen, ob Jessy ihren Jungen findet und ob die Welt am Schluss nicht doch untergeht.
Mary Miller: Süßer König Jesus. Metrolit 2013. 256 Seiten. 19,99 €.
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