Auch wir sind gut ins neue Jahr gestartet und schauen am ersten Wochenende des neuen Jahres noch einmal auf 2018 zurück. Hier also die Lieblinge unserer Redaktion, die einen schönen Mix quer durch die Bücherlandschaft sind. Was meint ihr?
von Stephan:
George Saunders: Lincoln im Bardo
Alle Jubeljahre gibt es Bücher, die wie Monumente im literarischen Betrieb stehen. Jedes Feuilleton, das etwas auf sich hält, lobt sie im Überschwang, hebt sie in den Himmel und sagt, dass dies der Maßstab sei, an dem sich Literatur zu messen habe. So unter anderem geschehen bei David Foster Wallace und seinem Roman Unendlicher Spaß. Daneben gibt es aber auch Stimmen, die sich gegen den Strom stellen und ein Buch, das von allen gelobt wird, aus Prinzip schlechtreden. So geschehen ebenfalls bei David Foster Wallace. Die eine wie die andere Tendenz ist gleichermaßen mit Vorsicht zu genießen, sodass ich Büchern, die zu Kritikerlieblingen avancieren, eher skeptisch gegenüberstehe. Lincoln im Bardo ist so ein Fall. Als „neuartiges Fest der Fantasie“ lobte es Andreas Isenschmid in der Zeit. In der Neuen Zürcher Zeitung las man, dass der Autor die Leser „dicht am Herzen“ erwische. „Ergreifender Trauergesang“ stand in der F.A.Z. Da wirkt es fast schon wie Majestätsbeleidigung und Pedanterie, wenn man dem Roman vorwirft, dass ihn etwas weniger Mummenschanz noch größer gemacht hätte (Frankfurter Rundschau). Nun hat das „klassische“ Feuilleton aber wahrlich kein Monopol auf das Lob. Auch Buchblogs schlagen in die gleiche Kerbe: Für den Bookster HRO war und ist Lincoln im Bardo das Buch des Jahres. Genug Nahrung also, um meine Skepsis zu einem grotesken Riesenungetüm heranwachsen zu lassen. Und tatsächlich: sie hat recht behalten. Allerdings anders, als ich gedacht hätte: Über bestimmte Bücher sollte man erst gar nicht reden. Worte werden ihnen nicht gerecht. Man liest sie, und sie lassen einen sprachlos und überwältigt zurück. Man sollte Lincoln im Bardo gar nicht rezensieren. Man sollte es lesen! Immer und immer wieder! Dass der Literaturbetrieb und die Literatur selbst natürlich vom Sprechen über Bücher leben, ist mir klar und es ist natürlich auch ganz gut so. Bei Saunders Roman ist Lob allerdings wirklich nur aus marktstrategischen Gründen am Platz. Ansonsten spricht das Buch für sich.
George Saunders: Lincoln im Bardo. München: Luchterhand 2018. 445 Seiten. 25,00 €.
Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche
Kalle und Ziffel: Ein Arbeiter und ein Intellektueller. Beide könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie eint, dass beide ihr Heimatland verloren habe. Vor den Schrecken des Nationalsozialismus mussten sie nach Skandinavien fliehen. Ihr Blick auf Deutschland und die internationale Politik ist geprägt von ihrem eigenen Schicksal, den Repressalien, die sie auf der Flucht erleiden mussten und der ständigen Frage nach der Rechtmäßigkeit ihrer Existenz im Exil. Ihrer Anerkennung als Flüchtlinge und ihrer Duldung stehen oft bürokratische Hindernisse entgegen. Hindernisse, von denen auch Brecht ein Lied zu singen wusste: Ohne Ausweisdokument (das man meistens nicht hat) ist man aufgeschmissen: „Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.“
Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. 152 Seiten. 10,00 €.
Ernst Augustin: Das Monster von Neuhausen
Tobias Knopp hat ein Unrecht erlitten, das nicht anerkannt wird. Ihm wurde bei einer Gehirn-Operation der Sehnerv durchtrennt. Seitdem sieht er, wenn überhaupt, nur noch Schemen. Der schuldige Mediziner, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, streitet jedoch nicht nur alle Schuld ab, er bezichtigt Knopp auch noch, ein eingebildeter Kranker zu sein. Seine Blindheit wäre psychisch bedingt, er würde sich nur einbilden, nichts sehen zu können.
Augustins „Protokoll“, wie das Buch im Untertitel heißt, gibt Knopp allerdings keine eigene Stimme. Der Sachverhalt wird dem Gericht und dem Leser durch seinen Anwalt vorgetragen. Zur Verhandlung steht auch nicht die Schuld des Arztes, sondern die Schuld Knopps, der offenbar die Gerechtigkeit – mit einer Axt bewaffnet – selbst in die Hand genommen hat. Die Ausführungen des Anwalts enden genau an diesem Punkt und schildern, wie es soweit hatte kommen können.
Das Monster von Neuhausen ist wohl Augustins bitterste Erzählung. Denn: Es ist, bis auf die Axt und einige andere künstlerische Freiheiten – seine Geschichte, die hier erzählt wird. Ihm selbst ist dies alles widerfahren. Er selbst ist das Neuhausener Ungetüm. Seine Verbitterung ist so spürbar wie verständlich. Seinen Witz, seine Fabulierlust hat er allerdings nie verloren. Dieses leider wohl letzte Buch aus seiner Feder zeugt davon.
Ernst Augustin: Das Monster von Neuhausen. Ein Protokoll. München: C.H. Beck 2015. 117 Seiten. 16,95 €.
von Torsten Ehlers
Marc-Uwe Kling: Qualityland
Ein wunderbares Buch, denn es zeigt, wo wir hinsteuern, sofern uns nicht die Erde um die Ohren fliegt. Unser Leben wird von Algorithmen bestimmt, die irgendwann mal für uns angelegt oder besser hinterlegt wurden. Wir haben keine Wahl mehr aus diesem vorbestimmten Leben auszubrechen oder uns auch nur zu verändern, denn für alles, was wir zum Beispiel geliefert bekommen, gibt es nur die Option zuzustimmen. Marc-Uwe Kling schaut auf eine beängstigende Zukunft, die aber mit sehr schwarzem Humor häufig zum Lachen anregt. Ein Buch, welches mein Buch des Jahres sein könnte, aber auch das jedes Jahres, in dem ich es gelesen hätte. Nun ist es also das Buch des Jahres 2018.
Marc-Uwe Kling: Qualityland. Berlin: Ullstein Verlag 2017. 384 Seiten. 18,00 €.
Reinhard Kleist: Nick Cave
Als Graphic-Novel-Fan ist Reinhard Kleist immer ein Muss. Seine Geschichte über Nick Cave: absolut großartig. In schwarz und weiß schafft es Kleist hier den Wahnsinn eines Musikgenies aufzuzeigen. Nick Cave hat für jedes seiner Alben mit seinen Dämonen gekämpft. Jede Musik und jeder Liedtext hat ihn an den Rand seiner Existenz gebracht, denn offensichtlich konnte er nur mit Alkohol und harten Drogen gut und vor allem kreativ arbeiten. Reinhard Kleist hat hier einem Meister seines Fachs ein wundervolles, aber auch beängstigendes Denkmal gesetzt, denn wenn man sich bei seinem kreativen Schaffen so nah an der Grenze zum Abgrund befindet, ist es das dann wert? Das muss wohl jeder für sich entscheiden. Nick Cave hat diesen Weg gewählt und dieser Weg war hart. Eine wunderbare Graphic Novel, die aufgrund ihrer Bilder auch verstören kann. Dieses Werk ist nicht für jedermann, aber wer es sich zutraut: unbedingt lesen!
Reinhard Kleist: Nick Cave. Hamburg: Carlsen Verlag 2017. 328 Seiten. 24,99 €.
Thomas Klupp: Wie ich fälschte, log und Gutes tat
Ich war mir nicht sicher, wie ich dieses Buch finden soll. Klar ist die Aussage fragwürdig: Jemand lügt, fälscht Noten und denkt auch noch, dass er seiner Familie damit etwas Gutes tut. Aber Literatur darf natürlich mehr sein als nur politisch korrekt, oder wie erklärt man sich sonst die Tatsache das Irvine Welsh mit Büchern wie Drecksau oder auch Porno Erfolg hat? Klar kann man es so erklären, dass Schocken immer zieht, aber auch das ist es nicht. Vielleicht kurz zur Handlung: Im Buch folgen wir den Ausführungen von Benedikt, der sich durchs Leben mogelt. Nur auf dem Tennisplatz ist er ein wirkliches Ass. Seine Vorbilder sind aber nicht die Gentlemen dieses Sports wie etwa Roger Federer. Klar, den findet er auch gut. Aber bewundern tut er eher John McEnroe, der ein ganzes Stadion gegen sich aufbringen und dann oder gerade deswegen doch gewinnen konnte. Benedikt ist also ein Antiheld, wie es sie bei Irvine Welsh en masse gibt. Aber auch Parallelitäten zu Holden Caulfield oder dem Protagonisten aus Christian Krachts Faserland sind in dem Buch zu finden. Diese Werke habe ich sehr gemocht und mag sie noch heute und von daher darf auch Thomas Klupp nicht in meinem Jahresrückblick fehlen.
Thomas Klupp: Wie ich fälschte, log und Gutes tat. Berlin: Berlin Verlag 2018. 256 Seiten. 20,00 €.
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