Rolf Lappert: Über den Winter

Atmosphärische Melancholie und Depression

Lappert beschreibt die Midlife-Crisis eines Endvierzigers.

Lappert über den Winter

von Torsten Ehlers

Jeder Mensch muss doch seinen Platz in dieser Welt haben. Für den einen ist es die Familie, für den anderen die Welt als solches, die er bereisen kann. Unser Zugehörigkeitsgefühl ist nicht nur abhängig von Personen, sondern kann auch Gegenden, Tätigkeiten und vieles mehr beinhalten. Fest steht aber, dass es für jeden Menschen einen Ort gibt, an dem er sich heimisch und wohlfühlt. Dies kann auch eine Begebenheit auf Zeit sein. Zum Beispiel kann ich für eine gewisse Zeit glücklich an einem Ort sein und plötzlich packt mich das Fernweh. Kann eigentlich fast jeder nachvollziehen. Manche Menschen sind aber nach einigen Jahren von ihrer Komfortzone, in der sie leben, gelangweilt und wollen ausbrechen oder sind es einfach nur müde immer das Gleiche zu tun. Doch in welche dieser Kategorien lässt sich Lennard Salm, Protagonist in Lapperts Roman Über den Winter einordnen?

Das lässt sich leider nicht so einfach bestimmen. Selbst die Lektüre des Romans bietet allenfalls Raum für Spekulation. Fakt ist, dass Lennard Salm sein Leben als getriebener Perfomance Künstler satt hat. Vielleicht ist er aber auch müde davon, ständig neue kreative Kunstformen zu finden oder befindet sich gar in einer Midlife-Crisis; so richtig lässt sich sein Motiv nicht greifen. Auf jeden Fall stellt er fest, dass er seine Familie, die bei der Beerdigung einer seiner Schwestern zusammen kommt, vermisst hat und dass er sie trotz all der seelischen Verletzungen, die sie sich gegenseitig zugefügt haben, gern hat und braucht. Mit Hilfe dieser Erkenntnis kehrt er in den Schoß der Familie zurück und kümmert sich u.a. um seinen Vater, der gepflegt werden muss.

Lappert immer noch ein Meister der Atmosphäre

Rolf Lappert ist und bleibt ein Meister der Atmosphäre in seinen Romanen. Die Beschreibungen des zerfallenden Elternhauses; die Mutter und der Vater leben in Scheidung und reden kein Wort mehr miteinander, beschreibt er eindrucksvoll. Die innere Leere des Protagonisten, der eigentlich nur noch Schlaf braucht, um wieder positiver in die Zukunft sehen zu können, ist sehr schön eingefangen. Dies gelingt vor allem in dem Bild, wie Lennard Salm ruhelos im nächtlichen Hamburg um die Häuser zieht, auf der Suche nach seinem Ziel, das Hotel, in dem er untergebracht ist. Diesem kommt er aber nicht näher und am Ende verläuft er sich sogar noch. Auch die Beschreibung des mehr und mehr verschwindenden und traditionellen Viertels Wilhelmsburg in Hamburg gehen ihm leicht von der Hand. Die Atmosphäre ist sogar so trostlos beschrieben, dass man sich fragt, wie die Figuren es eigentlich ertragen können hier zu leben und nicht Suizid begehen. Vielleicht ist genau hier auch eine Schwäche des Romans auszumachen.

Bei all der besonderen Atmosphäre bleiben bei Lappert viele Figuren nur sehr schwach in ihren Lebensläufen. Die jüngere Schwester vom Protagonisten Bille etwa ist eine Figur, die unglaubwürdig ist. Sie arbeitet am Theater und wird bei einem Casting von einem Schauspieler mit einer Waffe bedroht, weil sie und der Intendant ihn nicht engagieren wollen. Dies nimmt sie einfach so hin und lebt weiter. Ihre Naivität geht sogar so weit, dass sie diesen Typen toll findet und mit ihm zusammen kommt. Das ist so absurd und auch keine Beschreibung des Stockholm Syndroms, sondern fast schon Trash TV a la RTL 2. Solche Figuren gibt es im gesamten Roman zu Hauf, aber die Schwester soll hier als Beispiel genügen. Zusammenfassend kann man zu diesem Roman sagen, dass er einer der schwächsten von Lappert ist. Die Gesänge der Verlierer, Der Himmel der perfekten Poeten und sogar Pampa Blues waren stärkere Romane. Dabei greift Lappert hier auch wieder Themen auf, die gerade interessant sind, wie etwa: Demenz, Pflege im Alter und das Verschwinden des traditionellen Hamburgs. Doch leider gelingt es ihm nicht, dies alles in einem schlüssigen Gesamtkonstrukt unterzubringen. Habe ich Jan Böttcher für das Knarren und Knarzen beim zurechtbiegen der Handlung im Roman Y kritisiert, muss ich dieses auch bei Lappert tun. Über den Winter fällt im Gesamtwerk Lapperts etwas ab. Dennoch bleibt es ein gutes Buch. Die angesprochene Atmosphäre sorgt dafür.

Rolf Lappert: Über den Winter. dtv. München 2017. 384 Seiten. 11,90 €.

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